Christian Stipeldey

Christian Stipeldey

Wenn der Alarm kommt, tauscht Melanie Heuser ihren Arbeitsplatz in einer Bankfiliale mit dem Seenotrettungsboot HORST HEINER KNETEN/Station Hörnum. Wenige Minuten genügen der 37-Jährigen, um das Business-Kostüm aus- und den Überlebensanzug anzuziehen. Im Seenotfall muss die Bankkauffrau Kunden vertrösten und Finanzgeschäfte auf später verschieben. Denn die Nordsee hält sich nicht an die Geschäftszeiten eines Sylter Geldinstituts.

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Wenn Du als freiwillige Seenotretterin alarmiert wirst und im Einsatz auf See bist, springen Deine Kolleginnen und Kollegen dann für Dich ein?

Sie unterstützen mich sehr, ja. Ich muss dann spontan absprechen, wer meine Termine übernimmt oder sie kurzfristig verschiebt. Ohne diese Unterstützung meiner Chefin und des gesamten Teams ginge es nicht. Wenn ich zum Beispiel die ganze Nacht auf See war, um Menschen aus Gefahr zu befreien, und danach völlig fertig bin, kann ich schlecht direkt morgens in die Bank gehen. Dann komme ich etwas später oder gehe früher nach Hause. Das Team hält mir aktiv den Rücken frei, das ist super.

Wie oft hast Du Bereitschaft?

Immer, rund um die Uhr, jeden Tag im Jahr, es sei denn, ich bin mal nicht auf der Insel, aber das ist selten. Bei uns sind die Einsätze zwar nicht so häufig wie im Landrettungsdienst. Aber ich muss auch jährlich die Erste-Hilfe-Ausbildung auffrischen oder Lehrgänge im Trainingszentrum der Seenotretter besuchen. Mein Arbeitgeber unterstützt das mit bezahlter Freistellung, Bildungsurlaub und flexiblen Arbeitszeiten.

Du bist auf Sylt aufgewachsen. Unterscheidet sich das Engagement als Freiwillige bei der DGzRS auf einer Insel von dem auf einer Station am Festland?

Ja, ganz klar. Auf einer Insel stehen weniger Leute zur Verfügung. Sylt ist zwar die größte deutsche Nordseeinsel, und sie wird von so vielen Menschen besucht wie keine zweite. Aber im Süden, wo unsere Station Hörnum liegt, leben nur wenige Einheimische wie ich. Für die meisten aus unserer Crew sind die Wege zur Rettungsstation länger als für mich. Darum mache ich gerade die Weiterbildung zur Bootsführerin, damit unsere Crew noch flexibler ist. Im Einsatz oder auf Kontrollfahrten müssen wir an Bord mindestens zu dritt sein. Im Moment sind wir in Hörnum sechs Freiwillige und zwei Kandidaten. Ein, zwei Freiwillige mehr wären sehr gut.

Bootsführerin, das klingt nach viel Verantwortung. Was sind denn bisher Deine Aufgaben?

Im Moment mache ich alles an Deck, was anfällt: Ausguck besetzen, mit dem Fernglas die See absuchen, Pumpen oder Schleppleine klarmachen, am Funk und bei der Navigation unterstützen. Bootsführerin zu sein, ist eine zusätzliche Aufgabe, ja. Aber Verantwortung füreinander haben wir immer alle.

Wenn wir in den Einsatz fahren, muss ich wissen: Ich kann mich auf denjenigen verlassen, der neben mir steht – egal, wer das ist. Und das kann ich.

Die Crew trifft sich ja nicht nur zu Einsätzen oder Kontrollfahrten an Bord. Seid Ihr auch an Land eine Gemeinschaft?

Auf jeden Fall, und das nicht nur, weil wir auch an Land trainieren und uns zum Dienst treffen. Ich kann mich auf die anderen aus der Crew auch privat verlassen. Vielen Menschen heute ist nicht mehr bewusst, wie viel eine solche Gemeinschaft einem geben kann. Ich liebe den Zusammenhalt zwischen Seenotrettern, Feuerwehr, Rotem Kreuz und anderen. Das gibt mir viel. Und auch bei den Seenotrettern untereinander geht es sehr familiär zu, das gefällt mir sehr. Ich merke das immer sofort, wenn ich auf andere Stationen komme. Regelmäßig trainieren wir mit unseren Nachbarstationen List und Amrum. Bei größeren Übungen oder auf Lehrgängen treffe ich Crews, die ganz woanders aktiv sind. Immer ist man sofort beim Du, niemand fremdelt, alle sind Kollegen und Retter.

Wir sind alle Überzeugungstäter, die freiwillig rausfahren, niemand wird dazu gezwungen. Das eint uns alle.

Wir sind Seenotretter: Freiwillige Seenotretterin Melanie Heuser und Spender Erik Sander

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Als Insulanerin bist Du nicht nur bei den Seenotrettern, sondern auch bei der Feuerwehr aktiv. Hat sich das eine aus dem anderen ergeben?

Nicht direkt. Ich engagiere mich seit mehr als 27 Jahren ehrenamtlich. Als ich zehn war, habe ich bei der Jugendfeuerwehr angefangen. Heute bin ich Atemschutzgeräteträgerin im ABC-Gefahrgutzug der Insel. Auch mit den Seenotrettern bin ich schon früh in Kontakt gekommen: Mein Vater war ebenfalls Freiwilliger bei der DGzRS. Er ist beim Zoll zur See gefahren. Ich bin direkt am Hafen aufgewachsen, habe Segel- und Sportbootführerschein gemacht und war viel auf See unterwegs. Da lagen die Seenotretter nicht mehr fern.

Die Seenotretter haben eine sehr spezielle Aufgabe mit besonderen Herausforderungen. Hast Du keinen Moment gezögert?

Doch, aus zwei Gründen. Mir war wichtig, dass die Kollegen kein Problem damit haben, wenn ich als Neuling mit im Einsatz bin. Hatten sie nicht, sie haben mich ganz selbstverständlich als eine der ihren aufgenommen, ohne Sonderbehandlung, einfach toll. Und anfangs habe ich befürchtet, seekrank zu werden. Aber es ist ein Unterschied, ob man unter Deck sitzt und nichts macht, oder eine Aufgabe hat. An Bord bin ich sehr konzentriert – etwa bei der Navigation, am Fernglas oder am Suchscheinwerfer. Das hilft. Vor dem Rest habe ich mich nicht gefürchtet. Als Kinder waren wir regelmäßig in den Bergen zum Wandern. Dadurch hat man eine gewisse Trittsicherheit, die hilft auch an Bord ganz gut. Aber vor allen Dingen sind wir ja mehrfach gesichert und geschützt. Wir tragen professionelle Rettungswesten, Überlebensanzüge und picken uns an Deck mit Leinen ein. An Bord sagt man immer: Eine Hand für das Schiff, eine Hand für sich selbst. Das kannte ich schon durch meine Erfahrung vom Segeln.

Das klingt nach viel Routine. Ist das so im Einsatz?

Die Handgriffe, die man macht, müssen routiniert sein, damit man sie in jeder Situation beherrscht. Wir trainieren dafür ständig. Aber Einsatzroutine gibt es nicht wirklich

Kein Einsatz ist wie der andere. Wir wissen nie, was uns auf See wirklich erwartet.

Woran liegt das? Ist das Revier vor Sylt so besonders?

Das gilt unabhängig vom Revier für alle Seenotretter, weil auf See schnell etwas Unvorhergesehenes passieren kann. Auch ein kleines Problem kann schnell zu einer großen Gefahr werden. Man kann eben auf See nicht einfach an den Straßenrand fahren, wenn irgendetwas ist. Aber auch unser Revier ist nicht einfach. Die Nordsee ist ein Tidengewässer. Im Westen gibt es starke Gezeitenströme, hohe Brandung und viele Wellen, im Osten ausgedehnte Wattengebiete.

Weshalb werden die Hörnumer Seenotretter alarmiert?

Viele Fischkutter auf Fangreise sind von und zum Hörnumer Hafen unterwegs. Da kann immer etwas passieren, dem Schiff, den Fischern an Bord – genauso wie auf den Ausflugsschiffen und den Passagierschiffen, die die nordfriesischen Inseln und Halligen miteinander verbinden. Dann gibt es in unserem Revier viele Surfer, Stand-up-Paddler und Kiter. Und die liegen auch mal im Wasser, weil sie eine kurze Pause machen. Urlauber, die das nicht kennen, rufen die Seenotretter. Das geht manchmal so weit, dass jemand meldet: „Da ist ein Segelboot, das entfernt sich immer weiter vom Land.“ Es ist schwer, so eine Information einzuschätzen, weil das Segelboote so an sich haben, dass sie rausfahren. Wir fahren trotzdem hin, um zu prüfen, ob alles klar ist.

Seenotretterin mit Telefon in der Hand
Foto: artundweise

Lieber einmal mehr rausfahren als einmal zu wenig. Auch dabei lernen wir etwas.

Seenotretterin steht an Deck und schaut bei schlechtem Wetter durch ein Fernglas
Foto: artundweise
Lockbuch vor Bildschirm mit Gewässeranzeige
Foto: artundweise

Das heißt, auch Fehlalarme sind nützlich?

Selbstverständlich sollte niemand die Seenotretter grundlos rufen. In der Regel alarmieren uns Menschen, die begründet eine Notlage annehmen. Löst sich das schnell auf, ist es für alle Seiten das Beste. Aber auch solche Situationen nutzen wir, um zu trainieren. Einmal wurden wir spät nachts bei schlechtem Wetter alarmiert. Es war ein rotes Licht auf See gesehen worden, vielleicht ein Seenotsignal. Wir haben bei starkem Seegang und Regen gesucht. Der Scheinwerfer geht über die See. Du weißt aber nicht so genau, was du suchst. Oder ob das, was du suchst, überhaupt irgendwo in dieser Dunkelheit ist. Du durchsuchst einen Heuhaufen nach einer Nadel, die vielleicht nicht da ist. Braucht ein Mensch gerade Hilfe? Besteht Lebensgefahr? Stimmt die Richtung noch? Die Nordsee hat starke Strömungen. War das rote Licht nur ein Windrad oder Flugzeug in der Ferne? Gott sei Dank wurde in diesem Fall niemand vermisst. Aber wir haben trainiert, und das rettet vielleicht beim nächsten Mal ein Menschenleben.

Gibt es einen erfolgreichen Einsatz, an den Du Dich besonders gut erinnerst?

Eine norwegische Motorjacht mit Wassereinbruch, das war ein Wettlauf gegen die Zeit. In der Positionsangabe war ein Zahlendreher – das kann passieren. Wir sind also erst mal in die komplett falsche Richtung gefahren und haben erst vor Ort festgestellt, dass etwas nicht stimmen kann: also mit Volldampf noch mal um die halbe Insel herum. Als wir endlich beim Havaristen angekommen sind, war der Motorraum schon vollgelaufen. An Bord war eine Familie mit kleinen Kindern, die Frau schwer seekrank. Wir konnten das Schiff gerade so halten, nachdem wir mehrere Pumpen an Bord gebracht hatten.

Ich fahre sehr gerne raus auf See. Ich liebe, was wir machen. Aber trotzdem: Am besten ist es, keinen Einsatz zu haben, weil es bedeutet, dass niemand in Not geraten ist.

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