Ralf Baur

Ralf Baur

Die Seenotretter fahren raus – immer, auch bei Sturm und Orkan

Wenn auf Nord- und Ostsee ein Sturm oder Orkan tobt, sind nicht mehr viele da draußen unterwegs. Die meisten Schiffe und Boote liegen bei Windstärken von acht Beaufort und mehr im schützenden Hafen. Umgekehrt gilt: Wer auf See ist und nicht unbedingt in die gerade in Küstennähe meterhohen Wellenberge mit ihren langen, überbrechenden Kämmen und den sich bildenden Brechern hineinfahren muss, bleibt weit draußen – wettert ab, bis sich der Seegang aus Dünung und Windsee beruhigt hat und die ohrenbetäubende Brandung zu einem leisen Rauschen geworden ist.

All das gilt nicht für die Seenotretter. Sie fahren immer raus, wenn jemand auf See in Not ist, rund um die Uhr und bei jedem Wetter. Egal, ob die Sonne vom Himmel lächelt, der „Blanke Hans“ wütet oder eine unberechenbare Grundsee auch schon mal einen Seenotrettungskreuzer einfach so umschmeißen könnte, als sei er ein Spielzeugschiff.

Seenotretter-Film: „Im Sturm“

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Foto: NOUN
Foto: ypscollection.de

Die Nordsee knurrt, faucht und schnaubt. Böen der Windstärke 10 zerren an den Fahnenmasten im Cuxhavener Fährhafen, die Seile schlagen unaufhörlich an den Stahl: dong, dong, dong. Der Wind pfeift um die Ecken, peitscht das Wasser selbst im Hafen und türmt es auf See zu meterhohen Wellen auf. Brecher überspülen die Mole, die den Hafen schützend umfasst. Weiße Gischt wirbelt durch die Luft. Vereinzelt sind Menschen auf dem Deich unterwegs, stemmen sich gegen den Sturm. Sie werfen einen kurzen Blick ins Hafenbecken hinunter: Dort sehen sie den Seenotrettungskreuzer ANNELIESE KRAMER liegen. Aus den Bullaugen dringt Licht in den dunklen, ungemütlichen Sturmabend.

Drinnen sitzen vier Seenotretter in der warmen Messe beim Abendessen. Im Wissen um die Kräfte des Windes, der in einer Bö schon mal mit mehr als 100 Stundenkilometern an der ANNELIESE KRAMER zerren kann, haben sie ihr Spezialschiff mit zwei zusätzlichen Leinen noch ein bisschen fester an der Pier vertäut. Falls doch mal eine Leine brechen sollte, bleibt der Seenotrettungskreuzer trotzdem an seinem Platz. Ansonsten ist an Bord sowieso immer alles seefest gelascht, damit bei Einsätzen nichts durch die Gegend fliegen kann. Der Wind brummt ein wenig lauter um Rumpf und Deckshaus. Er rüttelt an der ANNELIESE KRAMER, lässt sie gemeinsam mit den an die Bordwand schlagenden Wellen stärker schwanken als bei ruhigem Wetter.

Sturmfahrt der HERMANN HELMS auf der Nordsee

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Die Seenotretter unterhalten sich, auch über den hinwegziehenden Sturm. Sie sind froh, jetzt nicht die Leinen losschmeißen zu müssen. „Niemand fährt gern bei solch einem Wetter raus, einfach nur so, zum Spaß“, sagt Vormann Hanno Renner. Auch die vier erfahrenen Seeleute nicht. Und wenn es doch mal sein muss? „Das ist unser Job, dafür sind wir da.“ Sie wissen dann dank ihrer guten Revierkenntnis um die Gefahren, die dort draußen lauern – gerade, wenn sich bei Wind gegen Strom die Wellen im Mündungstrichter der Elbe noch höher auftürmen, eine steile See von achtern kommt oder sie in eine Kreuzsee geraten. „Dann wird‘s mordsgefährlich.“

 

Dank Ihrer Spende! Die Seenotretter fahren raus – immer.

Film: „Im Sturm“

Auch bei Windstärke 7 und mehr sind die Seenotretter im Einsatz, bei Sturm und Orkan. Seenotretter, Fischer und Wetterexperte sprechen im Film über Sturm und Orkan.

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Ralf Baur

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Foto: ypscollection.de

Die See ist unberechenbar

Darum wollen die vier Seenotretter die Natur nicht ohne die Not anderer herausfordern. Sie haben Respekt vor der See: „Sie ist unberechenbar, und im Zweifel stärker als wir Menschen“, betont Hanno Renner. Und auch wenn sie sich auf dem Seenotrettungskreuzer sicher fühlen, in seine modernste Technik und die für alle erdenklichen Wetterverhältnisse ausgelegte Konstruktion vertrauen: Ein Restrisiko bleibt, die Gefahr fährt im Einsatz immer mit. Das haben die schweren Unglücke der ALFRIED KRUPP 1995 und der ADOLPH BERMPOHL 1967 gezeigt – in den beiden Orkannächten starben insgesamt sechs Seenotretter. Verschluckt von der See, später wieder an den Strand gespült, einer der sechs ist gar für immer auf See geblieben.

Ab und an geht ein Besatzungsmitglied der ANNELIESE KRAMER raus, kontrolliert die Leinen und schaut dabei manchmal hinaus auf die Außenelbe. Der Wind kachelt über das Wasser. Die großen Frachter fahren auf und ab, meiden die gefährlichen Gebiete. Die Seenotretter sind an solchen Tagen noch ein wenig wachsamer als sie es sowieso schon sind. Sie lauschen dem Funk, wollen nun erst recht keinen Hilferuf verpassen. Denn wenn jetzt auf See etwas passiert, muss alles noch ein bisschen schneller gehen als sonst. „Und passieren kann auf See immer etwas, bei jedem Wetter“, sagt Hanno Renner.

Foto: Steven Keller

„Und passieren kann auf See immer etwas, bei jedem Wetter.“

Seenotretter Hanno Renner

Sturm und Orkan: Einsätze unter extremen Bedingungen aus dem Logbuch der Seenotretter

2006
Orkanartige Stürme mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 100 Stundenkilometer und Wellenhöhen von mehr als zehn Meter haben die Nordsee am 1. November 2006 in ihrer Gewalt. Gegen 3.30 Uhr meldet das Küstenmotorschiff „Clementina“ den Ausfall der Ruderanlage. Daraufhin laufen deutsche und niederländische Seenotrettungskreuzer zur Unglücksstelle. Auf dem Weg kentert die 19 Meter lange niederländische „Anna Margaretha“ – ihre vier Besatzungsmitglieder werden vermisst. Es beginnt eine großangelegte Suche. Die Rettungsleute der „Anna Margaretha“ überleben, obwohl sie drei Mal mit ihrem Schiff durchgekentert sind.

1995
In der Orkannacht vom 1. auf den 2. Januar 1995, mit Windgeschwindigkeiten bis zu 100 Stundenkilometer, wird der auf Borkum stationierte Seenotrettungskreuzer ALFRIED KRUPP bei der Rückkehr von einem Einsatz von einer gewaltigen Grundsee erfasst. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich hierbei um eine Extremwelle handelt. Die See wirft die ALFRIED KRUPP um, die sich aber – wie konstruktionsbedingt vorgesehen – anschließend von selbst wieder aufrichtet. Doch Maschinist Theo Fischer ist nicht mehr an Bord. Ein Rettungshubschrauber findet den stark beschädigten und manövrierunfähigen Seenotrettungskreuzer. Als ein Rettungsversuch mit einer Leine wegen der starken Schiffsbewegungen nicht gelingt, schickt Vormann Bernhard Gruben seine Männer wieder zurück ins sichere Deckshaus. In dem Augenblick bricht eine weitere Sturzsee über dem Seenotrettungskreuzer zusammen und reißt auch den Vormann von Bord.

1993
Der Orkan Verena peitscht in der Nacht auf den 14. Januar mit Windgeschwindigkeiten von etwa 160 Stundenkilometern die Ostsee auf. Bis zu vier Meter hohe Wellen werden verzeichnet. Vor Rügen, inmitten des Orkans, bekommt die RoRo-Eisenbahnfähre „Jan Heweliusz“ zunächst Schlagseite. Dann sinkt sie. Die Besatzung des Seenotrettungskreuzers ARKONA kann unter widrigsten Bedingungen unter anderem Menschen von einer Rettungsinsel abbergen. 35 Passagiere und 20 Besatzungsmitglieder bleiben auf See.

1990
Am Abend des 20. August 1990 zieht ein schweres Unwetter über die deutsche Nordseeküste, mit Böen bis zu Windstärke 12. Als der Seenotrettungskreuzer VORMANN STEFFENS zwei Segler vor Wangerooge rettet, gerät er in eine schwere Grundsee – wahrscheinlich eine Extremwelle. Seenotretter Dieter Steffens wird von Bord gerissen. Wie durch ein Wunder überlebt er eine Dreiviertelstunde im 16 Grad kalten Wasser. Er wird von der Besatzung des Seenotrettungskreuzers OTTO SCHÜLKE gefunden.

1989
In der Nacht auf den 28. August erreicht der zunächst mit „Nord-Ost, sieben Beaufort“ angekündigte Wind an der Kieler Bucht Orkanstärke – also zwölf Beaufort. Die Seenotretter haben alle Hände voll zu tun. In Wendtorf sinken 76 Schiffe, mehr als 100 werden komplett zerstört. Der Orkan ist heute auch als „Wendtorf-Orkan“ bekannt.

1967
Der Seenotrettungskreuzer ADOLPH BERMPOHL verunglückt im Orkaneinsatz vor Helgoland – sieben Menschen bleiben auf See: die Fischer Jakob Vos, Schelto Westerhuis und Rommert Bijma sowie die Seenotretter Paul Denker, Hans-Jürgen Kratschke, Otto Schülke und Günter Kuchenbecker. Der Orkan wird fortan als Adolph-Bermpohl-Orkan bezeichnet und gilt als schwerster Orkan an der deutschen Nordsee mit Spitzenböen von mehr als 200 Stundenkilometer. 

1961/62
Von Anfang Dezember bis Anfang Februar 1961/62 wird die deutsche Nordseeküste von schweren Stürmen heimgesucht. Am 6. Dezember 1961 strandet das Frachtschiff „Ondo“ auf dem Großen Vogelsand in der Elbmündung – ein Drama im tückischen Mahlsand beginnt. Nur eineinhalb Monate später, am 20. Januar 1962, strandet der italienische Frachter „Fides“ bei Südwest 7 mit 32 Mann Besatzung unweit der „Ondo“. Die Winterstürme gipfeln am 16. und 17. Februar 1962 in einem Orkan, der von Meteorologen „Vincinette“ getauft wird: die Siegreiche. Zwölf Beaufort werden in Böen gemessen. Deiche brechen. In Hamburg steigt das Wasser so hoch wie nie zuvor. 340 Menschen kommen ums Leben. 

1951
Die Borkumer Seenotretter fahren am 28. November 1951 einen der schwersten Einsätze in der Geschichte der DGzRS. Bei Windstärke 11 schleudern gleich mehrere Grundseen den englischen Dampfer „Teeswood“ in der Emsmündung auf den Grund – bis das Schiff zerbricht. Die dreiköpfige Besatzung des Motorrettungsbootes BORKUM mit Vormann Wilhelm Eilers entreißt in größten Anstrengungen und unter Gefahr für das eigene Leben 13 Engländer der tosenden See.
 

Sturmsegeln: Unterwegs in Extremen

Seenotretter Thomas Baumgärtel und Thomas Engbert sind erfahrene Seeleute. Sie blicken auf mehrwöchige Törns zurück, bei denen die beiden auch als Segler in stürmische See gerieten. Welche Erfahrungen sie mit den Unbilden des Wetters gemacht und welche Tipps sie für solche Lagen haben, erzählen sie im Interview.

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Ralf Baur

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